Was sich ändern muss

von Dr. Stephan Keller

Seit vier Wochen leite ich nun schon den Krisenstab in Köln. Ich bin sehr froh, dass es uns bisher gelungen ist, die Zahlen so klein zu halten, dass unsere Kliniken alle Erkrankten auf höchstem Niveau behandeln können. Das muss so bleiben – in ganz Deutschland, und darüber sind sich auch alle einig.

Der Preis den wir zahlen, um das Virus einzudämmen, ist gleichwohl hoch. Kindergärten und Schulen sind geschlossen, Restaurants und Geschäfte mussten ebenfalls schließen, fast alle Unternehmen leiden unter hohen Umsatzeinbußen, das öffentliche Leben findet nicht mehr statt. Wenn dieser Preis nicht vergeblich gezahlt worden sein soll, müssen wir den eingeschlagenen Weg noch eine zeitlang fortsetzen. Trotzdem ist verständlich, dass der Ruf nach mehr Normalität lauter wird.

Deshalb ist es unser Ziel, vernünftige Lösungen finden, um zum richtigen Zeitpunkt in eine neue Normalität zu finden. Dabei müssen wir drei Grundbedürfnisse unseres demokratischen Gemeinwesens berücksichtigen: unsere bürgerlichen Freiheitsrechte, eine funktionierende Wirtschaft, die auch sozialen Zusammenhalt garantiert, und den Schutz der Gesundheit aller. Daran arbeiten wir alle auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene jeden Tag mit Hochdruck.

Ein weiteres Ziel muss aber sein, dass wir in Zukunft Krisen noch besser und schneller kontern können. Hierzu möchte ich gerne vier Gedanken mit Ihnen teilen.

1. Eigene Krisenreserven aufbauen!

Wir haben uns in den vergangenen Jahren zu sicher gefühlt. Nach Beendigung des kalten Kriegs wurden alle krisenrelevanten Systeme heruntergefahren: Eigene personelle, materielle und technische Ressourcen wurden abgebaut, die Abhängigkeit vom Ausland ist in vielen dieser Bereiche stark gestiegen. Rettungsdienste, Krankenhäuser, öffentliche Gesundheitsdienste wurden im gleichen Maße auf Wirtschaftlichkeit getrimmt, Personal und Lagerhaltung für Krisenzeiten abgebaut. Die aktuelle Situation zeigt schonungslos die Systemschwächen auf. Wichtige nationale Fähigkeiten sind nicht mehr vorhanden. Das Virus trifft hier auf ein ausgezehrtes System.

Wir müssen im wahrsten Sinne des Wortes wieder „aufstocken“. Der Mangel an systemrelevanter Ausstattung wie Schutzmasken und Schutzkleidung zeigt, dass wir eigene Fähigkeiten und krisensichere Lieferketten benötigen, um in der Krise bestehen zu können. Das wird seinen Preis haben, aber den müssen wir zahlen.

2. Krisenbewältigung vor Ort stärken!

Schon in der Flüchtlingskrise ist deutlich geworden, dass die Hauptlast der Krisenbewältigung von den Kommunen getragen wurde. Vor Ort kennen wir die Lage und haben Zugriff auf operativ leistungsfähige Organisationen, z.B. die Ordnungsbehörden, die Berufsfeuerwehren, Rettungsdienste und Hilfsorganisationen. Diese Strukturen müssen gegen den Trend der vergangenen Jahre gestärkt werden. Vor dem Hintergrund knapper Kommunalfinanzen sind die Gesundheitsämter personell ausgedünnt worden. Und als die ersten Coronafälle in der Kölner Feuerwehr auftauchten, stellte sich die Frage, ob das System dieser Belastung gewachsen ist.

Deshalb brauchen wir nichts weniger als eine Renaissance des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Was die Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsamt gerade 24 Stunden am Tag leisten, ist kaum zu beschreiben. Sie sorgen dafür, dass Kontaktpersonen ermittelt und in der Quarantäne betreut werden, dass kranke Personen in die richtige Klinik kommen und dass das Virus sich nicht unkontrolliert ausbreitet. Die Teams wachsen ständig, wir qualifizieren in der Krise ständig Leute nach. Mittlerweile dürfte jedem klar sein, wie wichtig diese Arbeit ist und dass diese Kompetenzen weiter ausgebaut und professionalisiert werden müssen.

3. Beschaffung zentral organisieren!

Auch starke kommunale Strukturen bedürfen an einigen Stellen der Unterstützung durch den Bund. So zeigt sich am Beispiel der Beschaffung von Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten ein absurdes Problem. Hier tritt gerade jeder gegen jeden an: Städte gegen Kliniken, Länder gegen Kommunen – und wenn dann ein weiterer Player wie die Großmacht USA auf dem leergefegten Markt auftaucht, kann sich jeder denken, dass das lebensrettende Gerät eher in Amerika als in Düsseldorf landen wird. Das kann nicht sein!

Die Krise zeigt, dass die Beschaffung von relevanten Gütern und der Aufbau von Krisenreserven in einer zentralen Beschaffungsstelle beim Bund verankert werden muss. Die Kommunen melden an, was sie benötigen, bestellt wird zentral, gebündelt und zu einem angemessenen Preis. Dann wäre zumindest in Deutschland Schluss mit der zurzeit vorherrschenden Wild-West-Mentalität. Mehr Koordination wäre auch in Bezug auf weitere Behandlungskapazitäten sinnvoll. Zurzeit planen große Städte auf eigene Faust eigene Behelfskrankenhäuser – eine zentrale Planung wäre sinnvoller.

4. Systemrelevante Arbeit vernünftig bezahlen!

Das Virus ist ein enormer Stresstest für unser personell ausgezehrtes Gesundheitssystem. Wie lange wissen wir schon vom Pflegenotstand und den stressigen Bedingungen in den Krankenhäusern – und was wurde wirklich dagegen getan?

Wenn wir die Krise überwunden haben, müssen wir hier aktiv werden. Wir spüren mehr denn je, wie abhängig unsere ganze Gesellschaft von guter medizinischer Betreuung ist. Deshalb müssen wir unseren Pflegesektor und die Krankenhäuser personell stärken. Dazu gehört natürlich auch eine bessere Bezahlung des Pflegepersonals und die Förderung qualifizierter Zuwanderung in diesem wichtigen Bereich.

Die Coronakrise führt uns nachhaltig vor Augen, was wirklich im Leben und in einer Gesellschaft wichtig ist. Solidarität, Gemeinschaft, Rücksichtnahme, eine gesunde Wirtschaft – und ein funktionierendes Gesundheitssystem sind relevante Bestandteile. Dafür setze ich mich jetzt schon ein – und das werde ich auch in Zukunft tun. Hoffentlich gemeinsam mit Ihnen in Düsseldorf.

Dieser Blogbeitrag ist heute in etwas modifizierter Form auch als Gastbeitrag in der Rheinischen Post erschienen.